Werte erwachsen – Unsere Verantwortung für die Kinder

Ursula von der Leyen

Wir brauchen Werte – das ist heute kaum strittig. Aber welche Werte? Das ist Gegenstand wichtiger und lebhafter Debatten – wichtig nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Integration von Zuwanderinnen und Zuwandern. Eine Gesellschaft, die sich über ihre Werte nicht im Klaren ist, kann niemanden integrieren; sie steht vor der Gefahr der Desintegration, des Zerfalls von Zusammenhalt und Zusammengehörigkeit.

Die zweite Frage ist die Frage der Vermittlung: Wie können Werte in einer offenen, von religiöser und weltanschaulicher Vielfalt geprägten Gesellschaft verbindlich werden? Wie bleiben sie lebendig, wie werden sie weitergegeben? Meine These und die Grundlage meiner Politik in diesem Bereich ist: Werte wachsen bei Kindern. Werteerziehung fängt in der Familie und im Kindergarten an. Eltern und Fachkräfte in Kindertageseinrichtungen starkzumachen für die Vermittlung von Werten, ist Kern von Werteerziehung und unsere gemeinsame Verantwortung.

Maßlosigkeit und Beliebigkeit sind die größten Feinde der Erziehung

In vergangenen Jahrhunderten änderte sich die Gesellschaft nur langsam. Werte wurden einfach übernommen: von Gerneration zu Generation, über die Eltern und Großeltern, die Kirche, die Nachbarn, die Schule. Ein stabiles soziales Umfeld sorgte dafür, dass Traditionen und Regeln weitergegeben und eingehalten wurden – nicht selten allerdings auf Kosten individueller Freiheit und auf Kosten derjenigen, die, aus welchen Gründen auch immer, „anders“ waren und damit aus dem Wertegefüge herausfielen.

Heute ist es anders. Gesellschaft lässt mehr zu as früher. Mode, Sexualität, Kultur, Lebensführung – in vielen Bereichen sind Grenzen verschwommen oder ganz verschwunden. Mehr Freiheiten und mehr Wahlmöglichkeiten bedeuten auf der anderen Seite weniger Selbstverständliches, mehr Eigenverantwortung, mehr Notwendigkeit, sich selbst zu orientieren und zu entscheiden. In einer globalisierten Welt verändern sich die äußeren Koordinaten schneller. Unsere Suche nach Werten ist nicht zuletzt eine Suche nach Sinn und Stabilität in einer sich rasant wandelnden Welt. Die inner Orientierung wird dadurch schwieriger, aber auch wichtiger – eine zentrale Kompetenz, um sich im heutigen Leben zurechtzufinden. Werte sind das Geländer, an dem wir uns auf dem Weg ins Leben festhalten können; sie sind das Fundament, auf dem wir sicher stehen. Wem dieses Geländer fehlt, kann sich an nichts mehr orientieren, aber auch an nichts mehr reiben. Freiheit löst sich auf in Beliebigkeit.

Gleichzeitig sind die Eltern mit der Erziehung eher allein als früher. Ein bekanntes afrikanisches Sprichwort sagt: „ Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind großzuziehen.“ Heute liegt die Erziehung in den Händen ganz weniger Menschen. Meist ist es vor allem die Mutter, die erzieht: selbst der Vater ist oft relativ fern. Je weniger Mehrkindfamilien es gibt, desto weniger Brüder, Schwestern, Cousins, Cousinen, Onkel, Tanten sind selbstverständlich im Umfeld eines Kindes präsent – Menschen, die eine Rolle beim Heranwachsen und in der Erziehung spielen. An ihre Stelle sind die heimlichen Miterzieher, die Medien, getreten. Früher hat das ganze Dorf miterzogen, heute erzieht das „Global Village“ mit, dessen Bilder und Botschaften via Fernseher und Computer in alle Wohn- und Kinderzimmer vordringen. Zwischen diesen beiden „Dörfern“ gibt es entscheidende Unterschiede: Medien wecken unendliche viele Wünsche – ohne klarzumachen, dass vor jedem Erfolg und jeder Belohnung die Anstrengung steht. Und ohne die Verantwortung zu übernehmen, auch mal „Nein“ zu sagen und die Konflikte durchzustehen, die ein „Nein“ auslöst. „Erziehung“ durch Medien birgt immer die Gefahr der Maßlosigkeit: nicht „Nein“ zu sagen, nicht auszuschalten, nicht zwischen Scheinwelten und wirklichem Leben unterscheiden zu können.

Es ist also schwieriger geworden, Kinder zu erziehen. Aber es ist nicht unmöglich. Werte fangen im Alltäglichen an, und auf dieser alltäglichen Ebene sind Werte weniger umstritten, als man denken könnte. Teilen, wenn man mehr hat – das ist Gerechtigkeit. Helfen, wenn jemand Hilfe braucht – Solidarität. Sich durchsetzen – dabei geht es um Mut und Zivilcourage. Aber auch einmal nachgeben – aus Respekt vor dem Nächsten. Es gibt einen breiten Wertekonsens in unserem Land. Repräsentative Befragungen zeigen immer wieder, was den Menschen wichtig ist, was zum Teil auch vermisst wird: Ehrlichkeit, Verlässlichkeit, Hilfsbereitschaft, Verantwortungsbereitschaft und Anstand stehen ganz oben. Es folgen Mut, Gerechtigkeit, Teilen und Maß halten können. Die Umfragen zeigen, was auch der gesunde Menschenverstand sagt: Es gibt Werte in unserer Gesellschaft, zu denen wir stehen und an deren wir uns orientieren können. Gegen die Maßlosigkeit der Wünsche und die Beliebigkeit des Unverbindlichen gilt es, diese Werte stark zu machen.

Wir haben ein schönes altes Wort für die Verbindung von Werten, Erziehung und Orientierung: Herzensbildung. Herzensbildung umfasst die gesamte Persönlichkeit und ist weit mehr als nur Wissen. „Erkenne dich selbst“, lautet die Aufforderung am Tempel des Apollon in Delphi. Sich selbst gut zu kennen, Selbstkritik und Einfühlungsvermögen zu entwickeln, anderen mit Respekt und Toleranz zu begegnen, die eigenen, inneren Kräfte auszubilden und uneigennützig auch für die Gemeinschaft einzusetzen, das ist Herzensbildung – und Grundlage eines Lebens der Orientierung an Werten.

Werteerziehung ist Aufgabe der Familie und Verantwortung der Gesellschaft

Der Zeithistoriker Paul Nolte fordert: „Wir müssen den Menschen wieder beibringen, auf andere Rücksicht zu nehmen.“ Der erste Ort, an dem dies passiert – im alltäglichen Umgang, beim Tischdecken und Geschirrspülen, bei „bitte“ und „danke“ – ist die Familie. Sie identifizieren sich mit ihnen und übernehmen ihr Weltbild. Kinder wollen erleben, dass Erwachsene eine Position haben und dieses auch vertreten. Erziehung bedeute also, Stellung zu beziehen und Vorbild zu sein. Nichts ist schlimmer für Kinder, als auf ihre Fragen hin ein Vakuum der Beliebigkeit vorzufinden. Sie suchen ihr eigenes inneres Geländer – übrigens schon in frühen Jahren sehr ernsthaft und im intuitiven Wissen um seine Bedeutung – und sind tief enttäuscht, wenn sie merken, dass den Erwachsenen dieses innere Geländer fehlt. Erziehung und Werteerziehung sind zuallererst Aufgabe und Verantwortung der Eltern. Diese Verantwortung können und müssen wir von ihnen erwarten. Das bedeutet, Grenzen zu ziehen zwischen gut und schlecht, richtig und falsch, gut und böse. Es bedeutet, ein Kind bedingungslos anzunehmen, immer wieder neu zu bestätigen, auch kleine Dinge, die gelungen sind, anzuerkennen. Vor allem bedeutet es, Vorbild zu sein. Ich bin noch nie so erzogen worden, wie seitdem ich selbst Kinder erziehe. Ohne die Eltern geht nichts.

Die allermeisten Eltern wollen gute Eltern sein und ihre Kinder wertebewusst erziehen. Dennoch: Erziehungsversagen, gelegentlich auch Erziehungskatastrophen sind gewiss nicht die Regel, aber doch mehr als nur Einzelfälle- Der Erziehungswissenschaftler Klaus Hurrelmann schätzt, dass ein Drittel der Väter und Mütter mit der Erziehung überfordert ist. Überfordert heißt: In vielen Elternhäusern gibt es Unsicherheit, ob man Werte einfordern darf, wie man sie heranbilden kann, wer verantwortlich ist.

Zum Zweiten haben Müttern und Väter den Anspruch auf solidarische und verlässliche Unterstützung. Hier geht es nicht um Debatten, hier wird es praktisch: Wir müssen die Fähigkeit zur Erziehung stärken und Verantwortung von manchen Eltern auch einfordern. Noch einmal das afrikanische Sprichwort: Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind zu erziehen. Das Dorf heute sind wir: Eltern, Verwandte, Freundinnen und Freunde, Nachbarn, Betreuerinnen und Betreuer in Kindertageseinrichtungen, Ärzte, die Gemeinde, der Verein oder die Jugendgruppe, das Jugendamt, auch die Bundesfamilienministerin. Der Staat trägt Verantwortung für Schule und Kindergarten. Er schafft damit Räume, in denen Eltern ihm ihre Kinder anvertrauen. Sie erwarten, dass dort Erziehung stattfindet und auch gelingt. Tugenden, Respekt und Gemeinsinn dürfen nicht nur im engen Raum der Familie gelten. Wir brauchen Strategien und Instrumente, um solche Werte in den staatlichen Institutionen der Erziehung zu vermitteln und nachhaltig zu verankern. […]

Aus: Biesinger, Albert und Schweitzer, Friedrich (Hrsg.): Bündnis für Erziehung. Unsere Verantwortung für gemeinsame Werte. Herder 2006, S.41-48.